23. Februar 2014

Blindes Vertrauen

"Kevin, komm´!" schreit es in mein linkes Ohr. Ich renne mit meinem Koffer, der klein, aber sauschwer ist, die Treppe hinunter. Vier Minuten zum Umsteigen in Hamm (Westf) bedeuten einen Spurt von Gleis 2 zum Gleis 11. Kevin, den ich in den Menschenmassen nirgendwo entdecken kann, kommt offenbar nicht. "Kevin, kohomm´!" Als ich den Fuß der Treppe erreicht habe, höre ich nurmehr "e..i, o...o. e..i., .o...o." Vom Befehl der Mutter bleiben nur noch ein paar Vokale übrig, die im murmelnden Stimmengewirr und krächzenden Lautsprecherdurchsagen untergehen.

Ich nehme die Treppe zum Gleis 11 in großen Schritten und schaffe es tatsächlich gerade so, in meinen Zug nach Düsseldorf zu steigen, der pünktlich abfährt. Wieder wende ich mich meiner Lektüre "Im Café der verlorenen Jugend" zu und versuche, trotz der Enge im Wagon und der damit verbundenen Unruhe zu lesen.

In Essen Hbf bleibt der Zug sehr lange am Gleis stehen. Hatte ich mich nicht eben noch über den pünktlichen Zug gefreut und im Stillen der Deutschen Bahn meinen Respekt gezollt? Der Lautsprecher im Großraumwagen knistert und der Zugführer sagt an, dass wir für unbestimmte Zeit in Essen festsitzen werden, weil zwischen Mülheim und Duisburg eine nicht auszumachende Anzahl von Personen auf den Gleisen herumlaufe. Wo ist meine Pumpgun, wenn ich sie mal brauche? Ich würde die Gleise schon freipusten, aber hallo!

Noch habe ich gute Laune. Noch erfreue ich mich an meiner Fantasie, die mich mit meinem Koffer auf der Zugtoilette (falls nicht defekt!) verschwinden, mich in mein Superwoman-Kostüm hüpfen und mich den Zug an Mülheim und Duisburg vorbei tragen lässt. Es passiert aber nichts, außer dass sich immer mehr Menschen, die dem Irrglauben "Toll, ich habe den Zug nach Düsseldorf noch gekriegt" unterliegen, in die Bahn zwängen. Langsam werde ich klaustrophobisch und frage mich und die Mitfahrer, die mich einkeilen, warum wir nicht die S-Bahn nehmen, die doch offenbar noch fährt. Die Mitreisenden sehen mich stupide an, ähnlich wie die Elois Rod Taylor in der "Time Machine" Verfilmung. Den Leuten ist einfach nicht zu helfen, sollen sie doch den Morlocks in die Höhle folgen bzw bis zum Einbruch der Dunkelheit in diesem sauerstoffarmen Zug sitzen bleiben. Ich nehme mein Gepäck und steige über wenig erfreute Menschen aus dem Zug.

Als ich gerade am Bahnsteig in die S-Bahn einsteigen will, scheppert es aus den Laut- sprechern "Die einzige Verbindung Richtung Düsseldorf und Köln, die momentan fährt, ist die S-Bahn am Gleis 16". Na, bitte, aber auf mich hört ja keiner! Die S-Bahn wird voller und voller, die Tokioer U-Bahn zur Rush Hour ist dagegen die reinste einsame Insel. Ich würde gern aufhören zu jammern, aber ich kann nicht. Die Luft in der S-Bahn ist stickig. Präpubertierende Lolitas quatschen ältere Herren an, die das auch noch lustig finden. Es gibt mehr S-Bahn-Stationen zwischen Essen Hbf und Düsseldorf Hbf als Naomi Campbell Sozialstunden aufgebrummt bekommen hat. Ich halte mich mit meinem kleinen Finger an einer Metallstange fest, während ich mein Gepäck zwischen meine Beine geklemmt ausbalanciere. Ich habe kein Deo dabei. Und keine Pumpgun.

Neben mir steht ein Mann. Er ist blind. Keine Begleitung, keinen Hund. Nur einen weißen Stock. Er überlegt laut, ob er mit der S-Bahn nach Köln fahren soll. Ich erfahre, dass Mannheim sein eigentliches Ziel ist und rate ihm davon ab, mit diesem Bummelzug, der an jeder Milchkanne hält, weiter als bis Düsseldorf zu fahren. Nachdem ich ihm erzähle, dass ich in Düsseldorf aussteige, fragt mich der Blinde, ob ich ihn in einen Zug Richtung Mannheim setzen kann. Klar mache ich das, aber erst muss ich den Asphalt des Gleises vom Düsseldorfer Hbf küssen und mein Gepäck so schultern, dass ich den blinden Herrn an die andere Seite nehmen kann. Nein, tatsächlich erfasst er meinen Arm und wir wackeln so zum Fahrplan.

Mir fällt erst jetzt auf, wie rücksichtslos die Menschen sind, wenn es darum geht, ihren Zug zu erwischen. Mindestens dreimal werden wir angerempelt. Ich erkläre dem Blinden zwei zeitnahe Alternativen und mache ihm Vorschläge, wie er am besten weiterfahren soll. Er bemerkt: "Wenn Sie jetzt gerade nicht gesprochen hätten, hätte ich die Lautsprecher-durchsagen verstanden." Darf man einen Mann ohne Augenlicht einen Klugscheißer nennen? Ich sag mal nix, denke mir aber meinen Teil. Der eine Zug Richtung Mannheim hat 30 min, der andere Zug Richtung Köln nur 15 min. Verspätung. Beim Einfahren der letzteren Bahn bitte ich einen aussteigenden Schaffner, dem blinden Herrn doch den schnellstmöglichen Anschluss von Köln nach Mannheim zu nennen. Er schnauft, dass der Zug total überfüllt sei und er keine Zeit hätte. Der Blinde ist erstaunlich relaxed, meint, er müsse dann mal sehen (?), wie er weiterkommt, und bedankt sich überschwenglich für meine Hilfe. Ich schäme mich ein bisschen für den "Klugscheißer" und schiebe den Mann in einen Großraumwagen. Die Türen schließen sich.

Endlich kann ich nach Hause. Ich weiß nicht, wie ich diese Horrortour überstanden habe. Ohne Deo. Und ohne Pumpgun.