28. Februar 2016

Chuck Norris hat Rücken

Lieber Horst Evers,
(lieber Herr Evers klingt zu distanziert, lieber Horst zu plump vertraulich),

ich neige zu Anglizismen, die Intellektuelle gern verteufeln. Sollen sie doch.
Nachdem ich Ihre wunderbaren Kurzgeschichten gelesen habe, fällt mir nichts Besseres

ein als: „You just made my day“. Besser noch: „You just made my weekend“.

Ich bin nämlich wieder Bahn gefahren. Jetzt können Sie nicht wissen, dass mir dauernd merkwürdige Dinge passieren, wenn ich Bahn fahre. Sie beschreiben das Alltägliche so schön, Horst (ich sag jetzt mal Horst und Sie, obwohl das den Eindruck erwecken könnte, Sie seien mein Butler oder so). Ich finde es klasse, dass Sie auch so ein Hingucker und Zuhörer sind wie ich. Sie sehen das Lustige hinter dem Offensichtlichen. Und dass Sie Ihre Alltagsgeschichten mit abstrus Hinzuerfundenem aufpeppen, gefällt mir außerordentlich.

Als ich Samstag wegen einer verspäteten U-Bahn meinen Nahverkehrszug ins Ost- westfälische verpasste, habe ich mir in der Bahnhofsbuchhandlung Ihr Buch Für Eile fehlt mir die Zeit gekauft. Was auf dem Cover stand, überzeugte mich. Andere nennen es Alltag. Horst Evers nennt es Schikane. Hörte sich lesenswert an und ist es auch.

Ich begann Ihre Kurzgeschichten im ICE zu lesen. Vorher erkundigte ich mich am Gleis bei einer zierlichen Dame mit der bei DB-Mitarbeiterinnen beliebten Granatapfelhaartönung nach der Möglichkeit, einen Aufpreis für den ICE bis Hamm zu zahlen. Sie sagte, dass das ginge und wir das gleich im Zug erledigen könnten. Ich sah sie nie wieder. 

Während ich über den von Ihnen beschriebenen Unmut über eine geschenkte Saftpresse vor mich hingeierte, kam Blake Carrington in DB-Uniform durch den Großraumwagen geschlendert. Es war natürlich nicht Blake Carrington, aber er sah aus wie der Schauspieler aus dem Denver Clan, dessen Namen ich vergessen habe. Damit mich keiner des Schwarz-fahrens bezichtigen konnte, zupfte ich vorsichtig an seinem dunkelblauen Sakko und sagte: „Entschuldigung, kann ich bei Ihnen einen Übergangstarif für den ICE lösen. Ihre Kollegin hat gesagt, das ginge.“ „Zeigensema Ihr Ticket.“ Umständlich durchwühlte ich meine Handtasche und griff nach meinem Fahrplan, hinter den ich meine Fahrkarte geheftet hatte. Blake Carrington guckte auf den Plan und murrte, das sei kein Ticket, woraufhin ich ihn auf den Anhang aufmerksam machte. „Das müsste gehen. Mein Kollege macht das für Sie.“

Piiiiep. Ich war bereits bei der Geschichte über Das Paar im Zug angelangt, da ging es los mit der Pieperei. Ich sitze im ICE auf der Rückfahrt nach Berlin und versuche, eine Geschichte zu schreiben. Das ist nicht ganz einfach, denn das Ehepaar, das mit mir am Tisch sitzt, hat offensichtlich schlechte Laune. Sie sind wohl auf dem Weg zur Familie des Bruders des Mannes. Die Frau mag diese Familie nicht. Also, glaube ich. Zumindest sagt sie: „Nee, was freu´ ich mich, die Doofköppe zu sehen.“... Piiiiep. Mensch, noch nicht mal in Ruhe lesen konnte ich. Dieses Piep-Geräusch verwirrte mich. Es hörte sich an wie ein Computerspiel, ich sah mich bereits wütend nach einem Halbwüchsigen mit Nintendo DS vor der Nase um, aber dann erkannte ich die Ursache für das Piiiiep. Weil es in dem rappelvollen Zug kaum Platz für Koffer und Taschen gab, hatte jemand sein Gepäck in den Gang gestellt, und zwar genau vor die sich normalerweise automatisch schließende Tür. War ich eigentlich die einzige, die der schrille Ton störte? Während ich über meine eventuelle Überempfindlichkeit sinnierte, erschien Chuck Norris, der Kollege von Blake Carrington. Chuck Norris hatte einen Ohrring und schlechte Laune.

„Entschuldigung, können Sie mir wohl einen Übergangstarif für den ICE bis Hamm ausstellen?“ fragte ich freundlich und hielt ihm mein Ticket ohne Fahrplan hin.
„Muss ich ja wohl“ brummelte Chuck in seinen Bart.
„Ihre Kollegin am Bahnsteig und Ihr Kollege mit den grauen Haaren meinten, das ginge.“
Muss ich ja wohl!" raunzte Herr Norris nun wesentlich lauter, so wie man eben gern mit begriffsstutzigen Leuten spricht. Ein weißhaariger Mann mit Herbert-Wehner-Brille kam herbei geeilt und fragte, ob man die Tür, die immer wieder gegen das Gepäck stieß und den furchtbaren Laut verursachte, nicht am automatischen Öffnen hindern könnte.

„Das Gepäck darf hier gar nicht stehen!“ motzte Chuck. „Wer hat das überhaupt hier hingestellt? Ich mache gleich eine Durchsage und wenn sich keiner meldet, lasse ich die Koffer wegräumen.“ Ich sagte gut hörbar zu meiner Sitznachbarin, einer älteren Damen, die ihr Gepäck auch in den Gang gestellt hatte, dass es früher am Ende der Großraum- wagen immer richtig schön viel Stauraum gegeben hätte und dass früher überhaupt alles besser gewesen sei. Die Oma sagte, sie sei gar nicht in der Lage, ihren Koffer allein in das Minifach über den Sitzen zu wuchten. „Also, ich mach das nicht für Sie!“ maulte Chuck Norris. „Ich hab Rücken.“

Die ICE-Fahrt war so unruhig, Horst, dass ich mich gar nicht auf Ihre tollen, kurzweiligen Geschichten konzentrieren konnte. Das ging erst wieder im Bummelzug von Hamm nach Lippstadt. Allein über die Namen der Stationen könnte man herrlich schreiben. Welwer. Borgeln. Wundervoll. Die auf Tiefkühltruhenniveau klimatisierte Bahn war fast leer, und so las ich voller Freude Ihren Text Niedersächsischer Herbst:

...Wer also denkt: Herbst in Berlin sei so deprimierend, deprimierender geht es gar nicht, der hat noch keinen Herbst in Niedersachsen erlebt. Das ist Herbst. Aber so richtig! Herbst mit allem Berliner Schnickschnack, doch dazu scharfer, kalter Wind, kombiniert mit einem niemals endenden Nieselregen. Gäbe es so was wie Depressionstourismus, es würden Depressionshungrige aus aller Welt kommen, um sich den Herbst in Niedersachsen anzugucken. Ein besseres, ein kompletteres Depression-all-inclusive-Angebot findet man nirgends. Und der Landkreis Diepholz wäre wahrscheinlich der Ballermann der Depressionsfreunde (...) Nicht umsonst heißt es: Je flacher die Gegend, desto tiefer die Seele und der Blick in das Glas.

Am lautesten lachte ich dann Sonntag auf der Rückfahrt von meinem Cousinentreffen (keine Doofköppe, nur nette Verwandte) über die Geschichte, in der Sie eine neue Nachricht in Ihren Mailordner bekommen. Ach guck. „Hallo Horst, Mahmud Ahmadinedschad möchte auf Facebook mit dir befreundet sein“.

Die Kurzgeschichten, die Sie sich ausgedacht haben, sind super und haben den Vorteil, dass man schnell wieder reinkommt ins Thema, wenn man im Zug ein wenig eingedusselt ist und wieder aufwacht. Gleiches gilt für ähnliche Situationen im Flieger und im heimischen Bett. Glaube ich. Deswegen empfehle ich Für Eile fehlt mir die Zeit ohne Einschränkungen, Horst.

Horst.

Ach, ich sag einfach mal Horst und Du.




Zitate aus: Horst Evers, Für Eile fehlt mir die Zeit
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