24. Februar 2014

Französische Zweigtomaten




Wenn die Zeit drängt, kann ich faul sein. Sehr faul. Ich gehe zum Beispiel nicht in den Lebensmittelmarkt, in dem die Produkte am günstigsten angeboten werden, sondern in den, der auf meinem Weg liegt. Mein Verstand setzt dann aus. Er müsste mich an meinen debakulösen Kontostand erinnern und meine Füße geradewegs in einen Laden mit vier großen Buchstaben lenken. Macht er aber nicht.

Vorgestern:

Ich bin verabredet und spät dran, weil ein Kundengespräch sich in die Länge gezogen hat. Bevor ich der Altstadt meine Aufwartung machen werde, möchte ich noch einen Happen essen und mir etwas Deodorant unter die Achseln werfen. Es ist mir generell ein Rätsel, warum die Zeit rennt, wenn man sich verabredet hat, aber nie, wenn man in einem Meeting die neuesten Versicherungsumsätze mitgeteilt bekommt. Der Zeiger meiner Uhr rückt vor und vor und vor. 


Ich brauche noch ein paar Tomaten und Basilikum, und da ich ohnehin noch eine schlecht sitzende Bluse zurückbringen will, betrete ich das traditionelle Düsseldorfer Kaufhaus, dessen neoklassizistische Sandsteinfassade in Architektur-Lehrbüchern gern gerühmt wird. Die Schlange an der Kasse ist kurz, die Bluse wird zurückgegeben. Husch, husch in die Lebensmittelabteilung, die den Namen Delikatessa trägt. Ja, der Kunde soll gleich merken, dass er hier nicht einfache Lebensmittel einkauft, sondern ganz besondere Schmankerln.

Der Obst- und Gemüsestand, zwei Körbe mit unfassbar rot leuchtenden wohlgeformten Tomaten, wie sie schmackhafter kaum aussehen könnten. Auf dem Preisschild oben steht 1 kg - 5,98 Euro. Ein frecher Preis, denke ich und lese auf dem Schild unten den Preis von 1,99 Euro. Ich frage die Verkäuferin, ob ich mich selbst bedienen darf. Sie nickt und gibt mir ein Tütchen, ich stecke eine Rispe hinein und nehme noch eine einzelne hinzu. Das Basilikum erscheint mir auch überteuert, mit 1,99 für ein paar Stengelchen. Faulheit muss eben bestraft werden.

Die Verkäuferin wiegt die Ware und bittet schließlich um 12 Euro 77. 12,77 steht in grünen Lettern im Display der Kasse. 12,77. Ich frage aber trotzdem vorsichtshalber noch einmal nach. "Die sechs Tomaten und das Basilikum kosten 12,77?" Die Verkäuferin setzt ein Pokerface auf. "Ja." "12,77 für ein paar Tomaten und etwas Basilikum?". "Ja."

Ich schnaube und schaue auf meine Uhr. Aus einer Art Konfliktscheue habe ich in früheren Zeiten durchaus zähneknirschend Waren gekauft, die mir erheblich überteuert erschienen. Hier aber bin ich nicht bereit dazu.

"Entschuldigen Sie, aber das kann nicht sein. Hier steht doch 1,99 auf dem Schild."

"Ja. Für 100 Gramm."

"Das ist doch wohl ein Scherz. Sorry, aber dann kaufe ich die Tomaten nicht."

"Sie haben die Ware schon angefasst."

"Wenn ich gewusst hätte, dass sich die 1,99 sich auf 100 Gramm beziehen, dann hätte ich die bestimmt nicht kaufen wollen."

"Sie haben die Ware schon angefasst."

"Jaha, weiß ich. Sie haben das hier aber auch geschickt platziert. Oben steht 5,98 für 1 Kilo und unten liest man 1,99. Die 100 g haben Sie sehr klein geschrieben und das Schild so in den Korb gestellt, dass man das gar nicht lesen kann." Ich drehe meinen Kopf ein wenig, um noch einmal auf das Preisschild zu schauen. Französische Zweigtomaten 100 g 1,99.

"Sie haben die Tomaten angefasst, die kann ich jetzt nicht mehr verkaufen."

Ich schaue auf meine Uhr. Innerlich ticke ich gleich aus.

"Hören Sie, ich zahle keine 12,77 für ein paar effe Tomaten hier. Fertig."

"Sie können ja das Basilikum wieder rausnehmen, der ist ja verpackt. Dann kostet es..." Sie nimmt die Kräuter von der Waage. "10,78."

Jetzt würde ich gern spitzfindige Bemerkungen anbringen, die mir auf der Zunge liegen, zum Beispiel:

"Warum sind die Tomaten so teuer? Sind die zwischen den Brüsten römischer Jungfrauen gereift? Verfeinerten Ozelotpupse den Düngungsprozess? Hat der Dalai Lama an die Stauden gepinkelt? Wenn Sie mich zwingen, diese Luxustomaten zu kaufen, werde ich den 1. Buchstaben Ihres Kaufhausnamens heute Nacht mit einer Flex von der schicken Sandsteinfassade entfernen!"

Aber jene Bemerkungen entstehen nur in meinem Kopf und verschwinden im Sumpf der Sätze, die ich niemals sagte.

Die Zeit rinnt und deshalb sage ich:

"Hören Sie, ich denke, Sie sollte in diesem Fall kulant sein. Ich arbeite selbst in der Dienstleistungsbranche..."

"Dann müssten Sie wissen, dass Sie die Ware kaufen müssen", unterbricht sie mich.

Ich werde lauter, wie immer, wenn mich jemand partout nicht verstehen will.

"Sie können sich auf den Kopf stellen. Diese überteuerte Ware werde ich nicht zahlen. Sie können gern die Abteilungsleitung kommen lassen."
(Für diese Diskussion habe ich eigentlich gar keine Zeit, ich müsste eigentlich schon längst zu Hause sein.)

Die Verkäuferin hat offenbar bald Feierabend, denn sie wird ein klein bisschen milder.

"Kaufen Sie dann wenigstens diese Tomaten?" Sie zeigt auf den Korb mit dem Gemüse, das mir ursprünglich zu teuer erschien. Nun ließe es sich vortrefflich streiten, so nach dem Motto Ach, plötzlich ist es nicht mehr schlimm, dass ich die Ware angefasst habe?. Mach ich aber nicht, ich nehme 5 von den zweitteuersten Tomaten, zahle (zuviel!) und rausche von dannen.

Zu Hause angekommen, rieche ich unter den Achseln wie jemand, der den Jakobsweg in einer Polyesterbluse gewandert ist. Meine Verabredung sagt unser Date telefonisch ab. Ich bin nicht wirklich böse darüber.

Ich esse die Tomaten, die ich gerade gekauft habe. Die sind so lecker, dass es mich beinahe ärgert.

Danach setze ich mich an mein Laptop und schicke Google auf die Suche nach Französische Zweigtomaten. Es erscheint die Seite www.tomatenmitgeschmack.de. Dort gibt es Ochsenherztomaten, schwarze Tomaten, gelbe Tomaten mit dem Namen Banana Legs.

Ich glaube, ich ziehe mir demnächst selber welche.
Alles andere ist Wahnsinn.