11. Februar 2014

Herr Fleischmann und die Sache mit der Ananas

Meine Familie besaß lange Jahre ein kleines Hotel im Hochsauerland.
Hotel wäre vielleicht zu viel gesagt. Der eine oder andere Leser mag an glamouröse Ausstattungen wie Minibar und Wellnessbereich denken. Pension hingegen klingt zu mickrig, nach Bett, Schrank, Tisch und Frühstück und nicht mehr. Also blieb der Name für die Herberge mit Vollpension (mein Vater bot hervorragende Hausmannskost), Fernsehraum, Kaminzimmer mit Bar und kleiner Sauna Gästehaus am Kurgarten.

Zu den Stammgästen, die mindestens einmal im Jahr ins Hochsauerland reisten, gehörte Herr Fleischmann aus Hagen. Herr Fleischmann war ein gern gesehener freundlicher Mann mit Halbglatze und Brille. Er wurde von uns Kindern herzlich willkommen geheißen, denn er brachte jedes Mal (und keiner weiß bis heute warum) ein großes rosa Marzipanschwein mit.

Herr Fleischmann war nicht mehr der Jüngste und erzählte manche Geschichten zweimal. Von einem besonders tragischen Ereignis vergaß er nie zu berichten. Seine Schwägerin war an einem Stückchen Dosenananas (frische gab es in den 60er Jahren ohnehin nicht) erstickt. Die Fasern der Frucht waren in der Luftröhre hängengeblieben und hatten jegliches Atmen unmöglich gemacht. Dies war traurig, das fanden auch meine Eltern und meine ledige Patentante Hedwig, die im Betrieb meiner Eltern arbeitete und bei uns wohnte.

Alle wussten: Wenn Herr Fleischmann kommt, dann gibt es ein Marzipanschwein und auf jeden Fall den Bericht über die Ananas und die tote Schwägerin.

Herr Fleischmann kam, das obligatorische Schwein wurde überreicht und das Mittagessen im Speiseraum serviert. Nach dem Essen pflegten meine Mutter und meine Tante ein wenig Konversation mit den Gästen zu machen. Mein Vater räumte unterdessen die Küche auf und spülte. Zwischen Speiseraum und Küche gab es eine Durchreiche, ein Fenster mit einer Klappe zum Zuschieben. Somit konnten die Gäste nach dem Servieren der Speisen nicht mehr in die Küche schauen und wurden auch nicht durch Geschirrgeklapper gestört.

Als Herr Fleischmann an seinem Ankunftstag als letzter Gast mit meiner Mutter und Tante plauderte, öffnete sich plötzlich die Schiebetür der Durchreiche und jemand, also mein Vater, stellte eine Dose Ananas auf die Ablagefläche. Mein Vater schloss die Tür und horchte an selbiger. Es dauerte nicht lange, ein bis zwei Minuten, da setzte Herr Fleischmann an:

"Wo ich gerade die Dose Ananas sehe, habe ich Ihnen eigentlich schon mal die Geschichte von meiner Schwägerin erzählt, die ist nämlich an einem Stück Dosenananas ersti..."
Weiter kam Herr Fleischmann leider nicht. Meine Tante, die bereits vor dem Gast die Dose erblickt hatte, konnte sich nicht mehr beherrschen und unterbrach seine Rede mit einem prustenden Lachen. Meine Mutter versuchte, sich zu beherrschen, aber sie konnte auch nicht mehr an sich halten. Die damals jungen Damen konnten sich nicht mehr beruhigen, ein Lachanfall nach dem nächsten durchschüttelte sie.

Mein Vater hinter der Durchreiche amüsierte sich prächtig. Herr Fleischmann hingegen war verwirrt. Was gab es zu lachen, wenn jemand aus seiner Familie auf diese tragische Weise dahingeschieden war?

Ich bin mir nicht sicher, ob Herr Fleischmann danach jemals wieder Urlaub im Gästehaus am Kurgarten gemacht hat.

Da muss ich doch gleich mal meine Eltern anrufen und fragen.