23. Februar 2014

Früher war ich manchmal wild

Die Kinder hatten ihre Schlitten mit den Schnüren aneinander gebunden. Sie brauchten Platz, um mit ihrem Bummelzug, wie sie es nannten, den Hang hinunter zu fahren. Auf dem ersten Schlitten saß für gewöhnlich Frank mit dunkelrotem Skianzug und hellblauer Bommelmütze und rief:

"Bahnfrei - Kartoffelbrei!"

Dieses war ein Signal, das jedes Kind verstand. Der, der sich anschickte den Hügel im Kurgarten hinab zu brausen, wollte Kollisionen mit anderen Schlittenfahrern, Skiläufern oder Fußgängern verhindern. Jedoch warteten die meisten Kinder gar nicht, bis die Rodelbahn frei war, sondern nahmen mit ihren kleinen Stiefeln Schwung und warnten bereits in voller Fahrt, dass sie eine frei Bahn benötigten.

"Bahnfrei - Kartoffelbrei. Hey, baaaaaahnfrei!!!"

So manchem älteren weiblichen Kurgast der touristischen Gemeinde waren wir knapp an den Seehundfellstiefeln vorbei gesaust. Die Damen im Persianer waren alles andere als amüsiert, sie hatten sich fürchterlich erschreckt und schimpften so lange, bis der Übeltäter sich entschuldigte. Sie hatten "Bahnfrei - Kartoffelbrei" offenbar nicht verstanden. Es gab Zusammenstöße mit anderen Schlitten. Im Schnee waren oft kleine rote Flecken sehen.

Überhaupt, der Schnee! Am liebsten stapfte ich durch die weißen Kristalle einer noch völlig unberührten Wiese. Dann drehte ich mich um und betrachtete die Spuren meiner kleinen Füße. Wenn der Schnee besonders hoch lag, nahm ich Anlauf und sprang ganz weit ins Weiß der Teichweise. Oder legte mich hin und kullerte den Hügel neben meinem Elternhaus hinunter. Am allerliebsten warf ich mich nach hinten und wedelte wild mit den Armen. Dann stand ich vorsichtig auf und sah mir mein "Engelchen" an.

Nach der Schule bauten wir mit einem Schneeräumer eine Schanze und spielten Skispringen. Die Anlaufspur zum Schanzentisch lief über das Grundstück der Familie Bärenfänger. Wir durften das. Onkel Horst war sehr großzügig, zumindest sagte er nichts. Wie auf der Mühlenkopfschanze, an der professionelle Europacup-Skispringen stattfanden, gab es auch hier Sprungrichter und einen Ansager. "Springer kommt" hieß es dann, Fußgänger wurden von uns Kindern am Durchschreiten der Anlaufspur gehindert. Am Schanzentisch ging der Springer aus der Hocke mit dem Oberkörper nach oben und versuchte, sich gerade nach vorn zu strecken. Die Sprünge gingen ca 8 bis 10 Meter weit, die der großen Kindern noch weiter. Manchmal stürzten wir. Ralf verlor zwei Zähne, als er direkt vor einen Baum knallte.

Winter war toll. In vom Schneeflug zusammen geschobenen Schneebergen bauten wir uns Geheimgänge. Wenn wir darin saßen und leise atmeten, war es gar nicht kalt. Auf dem Nachbargrundstück war der Schnee so hoch, dass ich mit meiner besten Freundin eine Expedition unternahm. Wir wollten auf nach Alaska und blieben bis zur Hüfte im Schnee stecken. Die Vorstellung zu erfrieren oder zu verhungern, brachten echte Tränen hervor.

Winter war nicht toll, wenn wir beim Schnee schippen helfen mussten. Es kam uns vor wie eine Sissiphos-Arbeit. Es schneite doch sowieso wieder darauf oder - schlimmer noch - der Schneeflug kam und lud binnen Minuten den Schnee wieder auf den frei geschaufelten Gehweg. Es war mühsam.

Winter war nicht toll, weil es Einseifen gab. Ich hasste es, wenn mir jemand brutal eine Ladung Schnee ins Gesicht drückte und hin- und herwischte.

Und für die Menschen, die gestern vergeblich auf Bahnen warten mussten, mit ihren Autos in Gräben gerutscht sind, für die, die gar nicht genug Schnaps trinken konnten, um die Nacht im Park zu überstehen, ist der Winter auch nicht toll. Ich habe die Berichte im Fernsehen verfolgt und an den schönen Winter meiner Kindheit gedacht.

Ich habe früher fast nie gefroren. Kälte und Nässe habe ich gar nicht empfunden, stattdessen Schnee gegessen, der übrigens nach nichts schmeckt außer "kalt".

Ob ich dem Winter noch eine Chance geben soll, sich anzufühlen wie damals? Dazu müsste ich wohl raus aus der Stadt, in die Heimat fahren, warm anziehen.

Dazu müsste ich wohl einfach wieder Kind sein.