„Katzenfutter“,
die alte Frau spuckte ihre Worte in meine Richtung, „das reinste
Katzenfutter is des.“ Ich räumte den Teller mit den Spaghetti
Tonno ab. Fast alles hat sie darauf gelassen. Der Geruch des
Tunfisches stieg in meine Nase. Ich verstand, was die Alte gemeint
hatte, als sie von Katzen-futter sprach, nachdem ich sie gefragt
hatte, ob es denn geschmeckt habe. „Komm, Mutter, wir müssen
weiter.“ Der Sohn warf mir einen entschuldigenden Blick zu und
wartete, bis sich die kleine Frau mit der altrosé farbenden Mütze
bei ihm untergehakt hatte. Am Nachbartisch bellte einer in sein
Handy. „Ich brauche noch eine Stunde, hab mir gerade einen Kaffee
getrunken nach dem langen Stau. In Feucht-Ost bin ich. Ja, in der
Raststätte.“ Ich nahm die leere Tasse, stellte sie auf den Teller
mit den Spaghetti und ging zur Küche. „Lissi, du hast längst
Feierabend“, rief Toni, der Küchenchef. „Hast du kein Zuhause?“
Klar hatte ich ein Zuhause, eine 50qm Wohnung mit Küche, Bad, ohne
Balkon. In der Anne-Frank-Straße wohnte ich, ich war nach der
Trennung von Markus vor drei Jahren dort eingezogen. Seitdem lebte
ich also allein, mause- allein. Toni hatte Recht. Ich hatte seit einer
Stunde Feierabend, aber vielleicht kam der Karl ja noch.
Gerade
als ich in meine Jacke schlüpfte und nach meiner Tasche griff, sah
ich durch die Küchentür Karl die Gaststätte betreten. Er schaute
sich um. Suchte er mich? Schnell glitt ich aus meiner Jacke und warf
sie zusammen mit der Tasche in den Spind. Ich spuckte in meine Hände
und strich mir über mein Haar, obwohl ich wusste, dass das zwecklos
war. Es kräuselte sich sowieso, vor allem bei den feuchten Dämpfen
in der Küche. Wie zufällig ging ich an Karl vorbei, der mit seinem
Tablett an der Kasse stand. Gulaschsuppe und eine Apfelschorle hatte
er sich ausgesucht. Wie immer. „Lissi, warte“, er ging mit dem
Tablett hinter mir her. „Hast du einen Moment für mich? Komm, setz
dich her zu mir.“ Natürlich setzte ich mich. Mein Dilemma war,
dass ich nicht allzu sehr den Eindruck erwecken wollte, mich für
Karl zu interessieren. Andererseits war mir wichtig, den Kontakt
aufrecht zu erhalten. „Und, wie hat´s dir gefallen?“ fragte er
und sah mir dabei direkt in die Augen, die ich niederschlug
wie ein dummer verliebter Teenager. „Mein Buch, wie hat´s dir
gefallen?“
Ich
räusperte mich. Klar, ich hatte sofort mit Karls Buch angefangen,
als er es mir in die Hand gedrückt hatte. „Straßenpoesie“ hieß
es. Lauter Gedichte standen darin, die hatte Karl geschrieben. Er war
ein richtiger Autor und hatte mir erzählt, dass er schreibt,
meistens abends, wenn er auf irgendeinem Parkplatz in Bergamo oder
Bratislava in der Koje seines Lkws lag. Und weil ich alles über Karl
wissen wollte, hatte ich mich nach Feierabend auf die Getränkekästen
draußen vor der Küche gesetzt und das leicht zerfledderte Buch
gelesen. „Gut. Gut hat es mir gefallen?“ „Welches Gedicht
mochtest du am liebsten?“ fragte mein Gegenüber. „Das, wo du
spät abends hinter der tschechischen Grenze einen Parkplatz suchst“
„Das mit den Nutten?“ Ich wurde rot. „Ja.“
Wir
hatten uns das erste Mal vor drei Wochen unterhalten. Gesehen hatte
ich Karl schon öfter und – ich weiß nicht warum – ich mochte
ihn einfach. Seine Jeanshemden, seine Stiefel, die blonden dichten
Haare. Ich mochte sogar seine Segelohren und hoffte, dass er mich
bemerken würde.
Eine
Schönheit bin ich nicht. Im Gegensatz zu meiner Schwester Susan. Wir
sind sogar Zwillinge, aber das bemerkt keiner. Wir sind zweieiig. Ich
bin klein und ziemlich rund, also breit wie hoch, meine Brüste sind
okay und mein Hintern so groß wie Brasilien. Susan ist mittelgroß
und schlank, und seit sie ihre Nase verkleinern lassen hat, hat sie
auch größere Brüste. Das kam so, dass der Chirurg sich nach der OP
direkt in meine Schwester verguckt hat. Dr. Berthold Dotterweich
meinte, lediglich den Busen müsste er ihr noch ein wenig richten,
ansonsten wäre Susan perfekt. Nun wohnten sie in einer schicken
Altbauwohnung mit Tiefgarage und Dachterrasse im Nürnberger
Stadtteil St. Johannis. Auf den Partys, die meine Schwester und mein
Schwager geben, fühlen sich meine Mutter und ich fehl am Platz. Dr.
Dotterweich wird nach ein paar Glas Whisky ziemlich unangenehm. „Und
das ist Lissi, die Schwester von Susan. Kaum zu glauben, nicht wahr?“
Dann legt er den Arm um seine Frau, knetet ein wenig eine ihrer
Brüste und sagte selbstgefällig lächelnd: „Und das sind die
Meisterdinger von Nürnberg.“ Diesen Spruch in Anlehnung an die
Meistersinger hatten wir schon mehrere Male über uns ergehen lassen.
„Schokomaus, reich uns doch noch ein paar von deinen leckeren
Häppchen.“
Allein
dieser Spitzname reicht aus, meinen Schwager unsympathisch zu finden.
Meine Schwester und ich sind nämlich Mischlinge. Meine Mutter hatte
Mitte der 70er Jahre in einem Bamberger Billardcafé, das bei
US-Soldaten sehr beliebt war, meinen Vater kennen gelernt. Ruckzuck
war sie schwanger gewesen und George, der Neger aus South Carolina,
hatte sie anstandshalber geheiratet. Meine Großeltern waren entsetzt
über die Schande und brachen den Kontakt zu ihrer Tochter ab. George
ging auf Befehl der Army zurück in die Vereinigten Staaten und nahm
seine Frau und die beiden Babys mit. Weil unsere Eltern sich kaum
kannten und weil meine Mutter die Sprache nicht verstand, gab es
Streit. Ich kann mich nicht mehr an das Haus, in dem wir lebten,
erinnern, nur an zwei weiße Schaukelpferde aus Holz. Die blieben in
Greenville, als unsere Mama die Koffer und uns packte und wieder nach
Nürnberg zurückging. Sie fand eine bezahlbare Wohnung in Schweinau,
in der sie heute noch lebt. Geheiratet hat sie nie wieder.
Susan war
sentimentaler als ich, was unseren Daddy anging. Sie scheute noch
nicht einmal davor, Kai Pflaume um Hilfe zu bitten. Es wurde ein Film
gedreht, wie Herr Pflaume durch Greenville rennt und meinen Vater
sucht, den er dann endlich beim Billard spielen im Veteranen-Club ausfindig machte. Der alte schmächtige grauhaarige
Farbige, der bei der Nachricht, seine Töchter würden ihn seit
langem suchen (was nicht stimmte, Susan vermisste ihn, ich nicht)
theatralisch zu weinen anfing, war nicht der Mann von den Fotos, die
unsere Mama in ihrer Nachttischschublade aufbewahrt hatte. Nachdem ein
Treffen unter Tränen stattfand, hatten wir noch zwei-, dreimal etwas
von Daddy George gehört. Dann brach die Verbindung wieder ab.
Diese
meine Familiengeschichte hatte ich Karl, dem Lkw-Fahrer und Dichter,
vor drei Wochen bei unserem ersten Gespräch erzählt. Vorher hatte
ich mehr absichtlich als aus Versehen die Reste der Apfelsaftschorle
beim Abräumen des Tabletts über die Jeans geschüttet. „Wenn du
mich kennen lernen willst, dann sag das doch einfach.“ Seine
Offenheit hatte mich zum Lachen gebracht. Und weil ich Feierabend
hatte und weil ich unbedingt mehr über Karl erfahren wollte, legte
ich die Schürze und das Papierhütchen ab und setzte mich an seinen
Tisch. Nun saßen wir wieder beieinander. Ich war noch etwas
verlegen, wenn wir so nah beieinander saßen und über seine Gedichte
sprachen.
Meistens starrte ich aus dem Fenster der Raststätte in den
Regen oder zupfte an den kleinen Knötchen meiner Strickjacke.
„Dieses Wetter macht mich fertig, Lissi“, Karl seufzte. „Zum
Glück habe ich morgen früh eine Tour nach Bergamo. Hinterm Brenner
scheint fast immer die Sonne, kannst du drauf wetten.“
„Italien...das wäre schön, ich war nur einmal in Italien, als ich
acht war. Auf einem Campingplatz in Cattolica.“ Karl drückte meine
Hand. Er wollte, dass ich mitkomme. „Komm mit“, sagte er. „Es
wäre großartig, wenn du mit mir nach Bergamo fahren würdest.“
Ich bekam Angst und sagte, dass ich morgen arbeiten müsse und nicht
einfach so losfahren könne. „Meld dich krank, Lissi. Oder sprich
mit Toni, der freut sich doch für dich, dass du mal rauskommst.“
Am
nächsten Morgen um vier stand ein Lkw vor der Anne-Frank-Str. 8. Der
Fahrer hupte fröhlich, als er mich mit kleinem Gepäck in der
Haustür stehen sah. Er sprang aus dem Fahrerhaus, nahm mir meine
Reisetasche ab und ließ mich in der Beifahrertür einsteigen. „So
viel Platz“, rief ich erstaunt. Zwischen den Sitzen erblickte ich
einen Karton mit Karls „Straßenpoesie“ Er war meinem Blick
gefolgt und meinte: „Die verschenke ich an Kollegen, die ich
unterwegs treffe. Ein paar habe ich sogar schon verkauft. Mach es dir
bequem, Lissi.“ Ich lehnte mich zurück in den Sitz und noch bevor
wir auf die Autobahn fuhren, war ich eingeschlafen. Als ich erwachte,
wurde es gerade hell. Ich schaute auf das Bergpanorama vor mir. Etwas
Schöneres hatte ich noch nicht gesehen. Links neben mir saß Karl
und trank Kaffee aus einem Thermobecher. Ich sah sein dichtes blondes
Haar und seine Segelohren und war glücklich. „Wo sind wir“,
fragte ich verschlafen. „in zehn Minuten hinterm Brenner. Du wirst
sehen, da scheint die Sonne. Hinterm Brenner scheint fast immer die
Sonne.“ Ich ließ die Scheibe des Beifahrerfensters herunter und
atmete tief durch.
Es roch nach Frühling.