23. Februar 2014

Mein Vater, der Hoffmann und das Fräulein aus dem Schreibabteil

Als mein Vater im Alter von 14 Jahren die Schule verließ, fragte man ihn, was er denn werden wolle, Autoschlosser oder Koch. Meinem Vater war das ziemlich wurscht, er hatte keine Ahnung, wie eine Berufswahl sein Leben beeinflussen konnte. Also wurde mein Vater Hermann Koch. Die Lehrjahre waren keine Herrenjahre, der Ton in der Großküche in Witten/Ruhr war ruppig, die Scherze auf Kosten des Lehrlings zuweilen hart, die Berge Kartoffeln, die es täglich zu schälen galt, riesig. Vom Heimweh nach seinem Heimatort Willingen gar nicht zu reden.

Immerhin, Hermann kam herum. Lange arbeitete er im Brauhaus Stade in Dortmund. Es waren die 50er Jahre, es wurde gefressen nach der langen Zeit der Entbehrung. "Das war die Fresszeit", sagt mein Vater und man weiß, was er meint. Hähnchen und Haxen und Braten und Knödel, davon reichlich und mit Soße.

Und weil mein Vater gerne reiste und etwas von der Welt sehen wollte, suchte er sich eine Arbeitsstelle bei der Deutschen Bahn und wurde Koch in Zügen. Der Donau-Kurier, der D222 fuhr von Dortmund über Köln, Frankfurt, Passau nach Wien und zurück. Der Schwabenpfeil fuhr von Dortmund nach Stuttgart und wieder zurück. Die Zugrestaurants waren viel eleganter als die Bordbistros heute, Gardinen, Lämpchen, es wurde richtig eingedeckt. Eine Mikrowelle gab es nicht, kein Pling und das Essen war fertig. Gekocht wurde auf engstem Raum, Fleisch wurde richtig gebraten, der Fond als Soßenbasis genutzt, eine Hühnersuppe war vorher tatsächlich mit einem Huhn in Berührung gekommen. 
Regionale Küche war beliebt. Ab Passau gab es Kaiserschmarrn und Tafelspitz, abrechnet wurde zum Schluss und zwar in Schillingen. Die Kellner kannten die Gäste, die regelmäßig mit dem Schnellzug fuhren und im Restaurant aßen, mit Namen.

Am besten verstanden habe ich mich mit dem Hoffmann. Horst Hoffmann hieß der. Aber der Schaffner, der ist uns auf die Nerven gegangen. Der kam dauernd in die Küche, wenn ich gerade das Essen fertig hatte und der Hoffmann servieren wollte. Och, was habt ihr denn da Leckeres, Ochsenschwanzsuppe, zeig mal her die Spezialitäten. Und dann hat der einfach die Suppe gegessen und der Gast hatte es doch eilig, der musste doch bald wieder aussteigen. Und wir mussten abends erklären, warum die Einnahmen nicht stimmten. Der Schaffner hat uns furchtbar geärgert, dem wollten wir unbedingt eins auswischen.

Im Schnellzug gab es nicht nur ein schönes Restaurant und richtiges Essen und Kellner, die den Namen der Gäste kannten. Am Ende des Wagens befand sich auch ein sogenanntes Schreibabteil. Dort konnten die Geschäftsreisenden telefonieren oder bei der Zug- sekretärin einen Brief oder ein Telegramm in Auftrag geben. Die Zugsekretärin, eine Christa oder eine Karin oder Ingeborg, war sehr nett und grüßte meinen Vater, den Koch, und den Hoffmann, den Kellner, immer freundlich winkend, wenn sie den Zug betrat.
Eines Tages nervte der Schaffner schon wieder.

Och, was habt ihr da denn Schönes auf dem Teller, Kaiserschmarrn? Lasst mal probieren, hm, köstlich.

Hör mal, wenn du uns schon die Haare vom Kopf frisst, kannst du uns aber auch mal einen Gefallen tun. Bring bitte diesen Brief dem reizenden Fräulein aus dem Schreibabteil.

Nee, Jungs, dazu habe ich wirklich keine Zeit.

Der Schaffner blickte auf den Umschlag des Briefes, auf den lauter Herzchen gemalt waren und grinste. Er wolle mal nicht so sein, die junge Dame sei ja wirklich ein flotter Käfer. Sprachs und verschwand mit der Liebesbotschaft ans Ende des Zuges. Kurze Zeit später kam der Zugbegleiter wutschnaubend und mit rotem Kopf zurück. Armleuchter seien sie, alle beide. Eine Frechheit sei das gewesen. Den zerknüllten Brief warf er ihnen vor die Füße und rauschte ab.

Mein Vater und der Hoffmann feixten frohgelaunt, hoben das Papier vom Boden auf und strichen es glatt. Darauf stand geschrieben:

Ich liebe Sie. Der Schaffner

Ob der Schaffner jemals wieder Speisen aus Töpfen und vom Teller gemopst hat, daran kann mein Vater sich nicht mehr erinnern. Wohl aber daran, dass das Fräulein aus dem Schreibabteil beim Verlassen des Zuges nicht nur freundlich gewunken, sondern auch den beiden jungen Männern verschwörerisch zugezwinkert hat.