23. Februar 2014

Oma Kesper ist tot

Meine Mutter hatte mir neulich am Telefon erzählt, dass es Frau Kesper gesundheitlich sehr schlecht ginge. Meine Mutter hat immer „Frau Kesper“ gesagt, aus einer Art Respekt heraus hat sie unsere frühere Nachbarin gesiezt, üblicherweise duzt man sich in meinem Heimatort über mehrere Generationen hinweg. Meistens wird ein „Onkel“ oder „Tante“ vor den Vornamen eines älteren Menschen gepackt, obwohl man gar nicht verwandt ist. Für meinen unwesentlich jüngeren Bruder und mich hieß die im Alter von 92 Jahren Verstorbene Oma. Oma Kesper. In Willingen hatten wir nämlich keine Oma, die Mutter meines Vaters war viel zu früh verstorben, ein Oberschenkelhalsbruch beim Schneeschippen, Lungenembolie, aus.
Die Mutter meiner Mutter lebte sechzig Kilometer von uns entfernt im ostwestfälischen Rixbeck. Deshalb nannten wir sie „Oma Rixbeck“.

Oma und Opa Kesper wohnten fast nebenan, nur ein jahrelang ungenutztes Grundstück lag zwischen ihrem und unserem Haus. Kespers hatten eine Kfz-Werkstatt und eine Esso-Tankstelle, wir ein kleines Hotel, somit waren fremde Leute allgegenwärtig sowohl in der ihren als auch in der unserigen Familie. Ich weiß nicht mehr, wann genau es angefangen hatte, dass Thorsten und ich sonntags zum Frühstücken zu den Nachbarn gingen. Wir müssen noch ziemlich klein gewesen sein, denn ich erinnere mich an den Weg von unserem Haus über das Grundstück und vor allem die kurze Böschung hinauf als kleines Abenteuer. Der Spaziergang zu Oma und Opa war aufregend und geprägt von Vorfreude. Wir Kinder entschieden uns, besonders früh bei unseren Nachbarn aufzutauchen, um auf jeden Fall die Oma noch mit offenem Haar zu erwischen. Normalerweise trug sie ihr Haar zum Dutt gesteckt, wenn wir aber zeitig bei ihr klingelten, erschien sie im Morgenrock und mit langen Haaren, die sie trotz ihrer grauen Farbe viel jünger erschienen ließen. Nach einer freudigen Begrüßung ging es hoch ins Schlafzimmer, in dem der Opa meistens noch schlief, bis wir ihn weckten. Die Kinder von Oma und Opa Kesper waren damals noch jung. Die Tochter hörte Langspielplatten mit Schlagermusik. „Mirell Mattö“ rief ich, als ich die französische Sängerin erkannte.

Mein Bruder flitzte unterdessen in die Speisekammer in der Küche und fand das Objekt seiner kulinarischen Begierde: die Schmierwurst, eine Streichwurst. Wie eine Trophäe hielt er sie hoch, hüpfte freudig von einem Bein aufs andere und sang: „Die Schmierwurst, die Schmierwurst!“ Dass er sich diese auf einer Scheibe Rosinenstuten wünschte, wurde leicht belächelt und erfüllt. 

Bei Oma Kesper schmeckte der Kakao anders als das Nesquick bei uns zuhause. Sie rührte echten Kakao mit Wasser an, ich schluckte den bittersüßen Trank eher aus Höflichkeit und war stets froh, wenn ich das Jagdmuster auf dem Boden der Tasse entdeckte.
Das Frühstück bei Oma und Opa Kesper war einer der Höhepunkte der Woche. Das lag vor allem daran, dass wir Kinder bei den Nachbarn ungeteilte Aufmerksamkeit bekamen. Die Enkel von Oma und Opa waren damals nämlich noch nicht auf der Welt.
„Oma, hast du Süßigkeiten?“ Bei uns zuhause gab es die eher selten.
„Oma, ich möchte Etebeten.“ Die Erdbeeren aus Omas Garten schmeckten frisch gepflückt sogar mit Erde dran.

Diese Erinnerung an das Sonntagsfrühstück hatten wir immer wieder aufleben lassen, wenn wir uns in den letzten Jahren sahen. Oft war das nicht, das muss ich zugeben. Bei unserer letzten Begegnung hatte sich Oma Kespers Augenlicht stark getrübt. „Ich hätte dich nit gekannt“, sagte sie im Dialekt ihres Heimatdorfes. „Ich sehe ganz schlecht. Aber schmecken tut´s mir noch.“ Wir saßen zusammen in der Küche, in der sie in meiner Erinnerung am Fenster saß, um mitzubekommen, wer auf den Vorplatz der Werkstatt fuhr, und aßen. 

„Thorsten wollte immer Schmierwurst. Und du hast durch das ganze Haus MIRELL MATTÖ gerufen.“ 

„Und wir sind sonntags immer besonders früh zu euch gekommen, damit wir dich mit offenem Haar sehen können.“ 

„Ach ja? Das hab ich gar nit gewusst.“

Oma Kesper wird heute beerdigt. Ich werde Sie in lieber Erinnerung behalten.