24. Februar 2014

Ihr 92. Geburtstag

Ich sitze gern im Café Goldregen. Die Einrichtung ist schlicht, kleine Marmortische, eine dunkelgrüne Lederbank, Wiener Caféhausstühle, knarrender Holzfußboden, auf dem man neuerdings einen riesigen Orientteppich gelegt hat, aber selbst der gefällt mir. Der Kaffee ist stark und gut. Es gibt keine Schmaddertorten im Angebot, sondern solides Hausgebackenes, wie zum Beispiel Käse-Mohn-Kuchen oder Schoko-Birnen-Kuchen. In einer Vitrine liegen Spiele für Kinder und oben drauf bunte Magazine, für deren Kauf ich zu knickerig bin, die ich aber sehr wohl lese, wenn sie schon einmal da sind.

Meistens ist herrlich ruhig im Goldregen, manchmal kann der Gast interessante Gespräche belauschen, neulich gab es ein kleines Foto-Shooting von sehr hübschen jungen Menschen, die Designschmuck trugen, der aussah wie aus bunten Strohhalmen gebastelt.
Und letzten Sonntag hatte Ingeborg Geburtstag.

Schon beim Betreten entdeckten mein Freund und ich die Gruppe Frauen unterschiedlichen Alters, die drei (!) der begehrten Tische an der dunkelgrünen Bank belegten. Wir quetschten uns an einen Tisch am Fenster, und gerade als der Kuchen serviert wurde, wurde ein Tisch an der Bank frei, also zogen wir um. Wir aßen Käse-Mohn und blättern ein wenig in den Zeitschriften, für die wir beide zu knickerig sind. Mein Freund schaute sich Männermode in der „Mens Health – Fashion extra“ an. Als wir gerade über einen Mantel, der aussah wie aus mehreren Rote-Kreuz-Decken zusammengeflickt und zum ungesunden Preis von 10.800 Euro käuflich zu erwerben war, räusperte sich eine Dame Mitte 60 und fragte, ob es in Ordnung sei, wenn sie und die anderen Damen gleich ein paar Lieder singen würde. „Die Dame in der Mitte ist heute 92 Jahre alt geworden.“ Sie zeigte auf eine kleine hübsche Frau mit hellblauem Blüschen und moderner cremefarbener Filzweste. Ihr immer noch sehr dichtes weißes Haar trug sie kinnlang, ihre braunen Augen blickten unbestimmt in den Caféraum. Meine Banknachbarin ging von Tisch zu Tisch und fragte, ob das Singen genehmigt sei. „Die Dame dort drüben hat Geburtstag, sie ist heute 92 geworden.“

Einige der Damen in der Geburtstagsrunde hatten Schnellhefter mit Liedtexten und alten Fotos vom „Geburtstagskind“ in ihren Händen. Bevor die Lieder angesetzt wurden, zeigte mir die Organisatorin der Feier ihr Heft und deutete auf ein Foto, auf dem die 92jährige ungefähr 50 Jahre alt gewesen sein musste. „Sie war Lehrerin. Sport. Sie können gerne mitsingen und mit in meinen Text gucken.“ Mein Partner wies freundlich darauf hin, dass er nicht mitsingen würde, nicht aus Unhöflichkeit, seiner furchtbaren Stimme wegen.

Zunächst sangen wir „Viel Glück und viel Segen“, dann „zum Geburtstag viel Glück“. Währenddessen blätterte Reiner in seinem Magazin und wies auf diese Schuhe und jene, alle zu unfassbaren Preisen, die mich beinahe hätten nach Luft schnappen lassen. Aber die brauchte ich ja zum Singen. Nun folgten ein paar alte Volkslieder. „Die Gedanken sihind frei, wer kann sie erraten? Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten...“ Ich freute mich, dass ich mich zumindest noch an die erste Strophe erinnern konnte und beobachtete die 92jährige, die ins Nichts guckte. Ihre Lippen bewegten sich stumm zu allen Strophen, und sie freute sich. Genauso verhielt es sich bei „Hab mein Wage vollgelade“ und „im Frühtau zu Berge“. „Sie kennt wirklich alle Texte“, sagte ich zu der Frau, die neben mir auf der dunkelgrünen Lederbank saß. „Ja. Sie singt zwar nicht laut mit und sie ist fast blind, aber weil sie früher diese Lieder so gern gesungen hat, dachte ich, wir singen ihr etwas vor.“

Ich singe mehr schlecht als recht und fand die Situation im Café, das gemeinsame Singen mit der Geburtstagstruppe, der Bedienung, das Brummen des jungen Mannes am Nachbartisch und das Deuten meines Freundes auf Bilder in seiner Zeitschrift so, als säße ich in einer Filmszene. Ein bisschen bekloppt, aber schön. Während wir sangen, dachte ich an „Das große Liederbuch“ mit den Zeichnungen von Tomy Ungerer, das ich als Kind besaß. Und an meine Oma, die mir immer Lieder aus der Mundorgel vorgesungen hatte. „In einen Harung, jung und schlank, zwo, drei, vier, ssssst-ta-taaa, tirallala“. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, das alle Besucher des Café Goldregen sehr zufrieden, vielleicht sogar glücklich waren.

Und deshalb schreibe ich das, was ich letzten Sonntagnachmittag erlebt habe, auf.
Wieviele glückliche Momente erlebt man schon?